Seitenwechsel. Unternehmer in der Politik und Politiker im Unternehmen

Seitenwechsel. Unternehmer in der Politik und Politiker im Unternehmen

Organisatoren
Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e. V.
Veranstaltungsort
Taunusanlage 12
PLZ
60325
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
06.10.2022 - 07.10.2022
Url der Konferenzwebsite
Von
Tim Raab Gesellschaft für Unternehmensgeschichte mbH

Der „Seitenwechsel“ von der Politik in die Wirtschaft ist aufgrund prominenter Beispiele in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs immer wieder thematisiert und problematisiert worden, stellt aber keinesfalls ein neues Phänomen dar. Das 45. Wissenschaftliche Symposium der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte im Hause der Deutsche Bank AG in Frankfurt am Main beleuchtete die historische Perspektive auf den Wechsel zwischen Politik und Wirtschaft und nahm die (Gruppen-) Biografien exemplarischer „Seitenwechsler“ in den Fokus. Anhand dieser Biografien wurde die Rolle der besonderen beruflichen Fähigkeiten und Expertisen von Seitenwechslern, die Wirkung des Seitenwechsels auf die jeweiligen Felder in Wirtschaft und Politik, sowie die sich ständig im Wandel begriffene Abgrenzung zwischen diesen beiden Feldern untersucht.

Nach der Begrüßung von CLEMENS BÖRSIG (Frankfurt) im Namen des Gastgebers, der Deutsche Bank AG, führte JAN-OTMAR HESSE (Bayreuth) in das Forschungsfeld ein und skizzierte eine vorläufige Typologie des Seitenwechsels von Krisenwechslern über Seitenwechslern aus dem Zwischenraum hin zu Expertenwechslern.

BORIS GEHLEN (Stuttgart) beleuchtete die Rolle des Unternehmers in der bürgerlichen Gesellschaft während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Anhand von 196 Unternehmern aus dem Deutschen Handelstag untersuchte Gehlen deren politische Aktivität und stellte seine Ergebnisse anhand einiger exemplarischer Biografien vor. Er betonte, dass die politische Betätigung Teil des wirtschaftsbürgerlichen Selbstverständnisses war. So übten Unternehmer zumeist auf der Ebene ein politisches Amt aus, die für ihr eigenes Unternehmen relevant war: Während regional tätige Unternehmer zumeist in der Kommunal- oder Landespolitik aktiv waren, zog es Reeder beispielsweise eher in die Reichspolitik. Ende des 19. Jahrhunderts begann dieses bürgerlich-liberale Modell zu erodieren. Politik bzw. Staat und Wirtschaft wurden zunehmend als Antagonisten wahrgenommen. Erst durch diese Entwicklung, so argumentierte Gehlen, entstanden zwei Arenen, zwischen denen ein Seitenwechsel stattfinden konnte.

WERNER PLUMPE (Frankfurt) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit Karl Helfferich und dessen Aktivitäten in Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Politik während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Der Volkswirtschaftler Helfferich kam zunächst als Experte beim Reichskolonialministerium mit der Politik in Kontakt und musste bei seiner anschließenden Tätigkeit für die Deutsche Bank in Konstantinopel unter schwierigen diplomatischen Bedingungen agieren. Während des Krieges war Helfferich unter anderem für das Reichschatzamt und das Innenministerium tätig, sah sich aber politisch zunehmend durch die Oberste Heeresleitung und den Reichstag isoliert. Seine Stellung als Experte in der Politik sah Helfferich nach dem Ende des Kaiserreiches durch gewählte Vertreter gefährdet; seine Ablehnung gegen die Republik äußerte sich durch seine Aktivität in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), wobei insbesondere seine polemischen Reden gegen Matthias Erzberger und Walter Rathenau infolge der Morde an beiden Politikern an Brisanz gewannen. Dennoch war Helfferich in der Republik weiterhin für den Staat tätig und konnte so seine Rolle als Experte unter geänderten politischen Bedingungen weiterhin behaupten.

Inwiefern auch Walter Rathenau als „Seitenwechsler” verstanden werden kann, erläuterte CHRISTIAN SCHÖLZEL (Berlin). Der Untertitel seines Vortrags „Alles ist eins" deutete bereits an, dass die vielfältigen Betätigungsfelder im Fall von Walther Rathenau zusammenflossen. Rathenau war nicht nur leitend in der von seinem Vater gegründeten AEG, sondern auch als Bankier tätig und saß vor dem Ersten Weltkrieg in zahlreichen Aufsichtsräten. Gleichzeitig beschäftigte er sich als Schriftsteller intensiv mit philosophischen und (wirtschafts-)politischen Fragestellungen, die sein Handeln stark beeinflussen sollten. Auch der Umgang mit seiner eigenen jüdischen Identität und der Erfahrung antisemitischer Diskriminierung, die unter anderem die von ihm angestrebte Karriere im Reichskolonialamt verhinderte, war für Rathenau prägend. Im Ersten Weltkrieg nutzte er seine Fähigkeiten als Organisator zum Aufbau der Kriegsrohstoffgesellschaften und ließ hierbei seine eigenen wirtschaftspolitischen Vorstellungen einfließen. Auch in der Weimarer Republik war er als Experte in der Politik tätig und in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) aktiv. Er trat 1921 als Wiederaufbauminister ins Kabinett ein und leitete dann ab 1922 das Auswärtige Amt, bevor er im Juni des gleichen Jahres bei einem rechtsextremen Anschlag ermordet wurde.

PHILIPP MÜLLER (Hamburg) nahm in seinem Vortrag wirtschaftliche Interessenvertreter in Deutschland und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg in den Blick. Strukturelle Veränderungen wie der Ausbau der staatlichen Verwaltung, die Entstehung von Unternehmerverbänden und die Restrukturierung von Wirtschaft und Verwaltung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wirkten sich prägend auf Wirtschaftsvertreter in der Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aus. Die Geschäftsführer der Unternehmerverbände stammten häufig aus dem staatlichen Bereich und sahen sich mit heterogenen Interessen innerhalb der Verbände konfrontiert. Die von ihnen genutzten Aushandlungsstrategien analysierte Müller unter Rückgriff auf Pierre Bourdieus Feldtheorie: Durch den Anspruch auf Universalität sei es den aus der Verwaltung stammenden Experten gelungen, ihre Expertise als symbolisches Kapital wirksam zu nutzen und Widerstände innerhalb der Verbände als Partikularinteressen zurückzuweisen. Auch gegenüber der Politik konnten die Geschäftsführer der Verbände diesen Universalitätsanspruch geltend machen und somit die Notwendigkeit der Expertise aus den Verbänden betonen. Die Interessenvertreter seien dabei weniger Seitenwechsler als Grenzfiguren einer wandelnden Grenze zwischen Politik und Wirtschaft gewesen und zugleich Akteure in der Konfliktgeschichte um die Grenzziehung zwischen beiden Bereichen.

Den zweiten Tag leitete DANIEL KINDERMAN (Delaware) mit seiner Fallstudie zu Donald Trump ein. Zunächst stellte Kinderman fest, dass der Seitenwechsel von der Politik in die Wirtschaft in den USA sehr viel verbreiteter sei als beispielsweise in Deutschland. Gleichzeitig sei der Wechsel von der Wirtschaft in das höchste politische Amt des Landes ein jüngeres Phänomen, das mit John F. Kennedy in den 1960er-Jahren zum ersten Mal aufgetreten war. In der Geschichte der USA sei Donald Trump der Präsident und sogar Präsidentschaftskandidat mit dem am stärksten ausgeprägten unternehmerischen Hintergrund. Dennoch, so die zentrale These von Kinderman, sei Trump als anti-establishment populist nicht wegen, sondern trotz dieses unternehmerischen Hintergrunds in das Präsidentenamt gewählt worden. So hätten laut Umfrage weniger als 25 Prozent der Wähler:innen Trump gewählt, weil er ein erfolgreicher Geschäftsmann sei. Außerdem argumentierte Kinderman, dass Donald Trump immer ein Außenseiter der New Yorker Wirtschaftselite gewesen sei und sich mittels populistischer Rhetorik während des Wahlkampfes und noch deutlicher während seiner Zeit im Amt gegen diese Wirtschaftselite positionierte. Trump habe sich sogar gegen Wirtschaftsinteressen gewandt, etwa durch seine Haltung gegen den Freihandel. Zugleich habe Trump Regierungsposten stärker als jeder andere Präsident zuvor mit Vertretern aus der Wirtschaft besetzt. Die Auswirkungen dessen auf die staatlichen Institutionen seien allerdings noch nicht abzusehen, so Kinderman.

JAN-OTMAR HESSE (Bayreuth) befasste sich in seinem Vortrag mit Ernst Wolf Mommsen, der 1970 von einer Karriere als Manager in der Röhrenindustrie auf einen Posten als Staatssekretär im Verteidigungsministerium wechselte. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg hatte er Berührungspunkte mit der Politik, als er in der Reichsgruppe Industrie und anschließend im Reichsministerium für Rüstung und Munition unter Albert Speer tätig war. Ab 1954 war Mommsen Vorstand der Rheinischen Röhrenwerke, später Phoenix Rheinrohr bzw. Thyssen Röhrenwerke, und hatte auch hier Berührungspunkte mit der Politik. Insbesondere in der Kontroverse um die Lieferung von Pipeline-Röhren an die Sowjetunion vertrat er die Interessen der Industrie, die einen Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen West und Ost anstrebte, und verhandelte sowohl mit der sowjetischen als auch mit der Bundesregierung. Sein Wechsel aus dem Vorstand der Röhrenwerke in das Verteidigungsministerium Helmut Schmidts sei unter anderem durch fehlende Perspektiven innerhalb des Thyssen-Konzerns motiviert gewesen, erläuterte Hesse. Wie erfolgreich Mommsen als Wirtschaftsexperte im politischen Feld war, zunächst als Staatssekretär in der Abteilung für Rüstungsangelegenheiten, anschließend im Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen, ist laut Hesse schon aufgrund des kurzen Verbleibs in diesen Ämtern fragwürdig. Nach weniger als drei Jahren im Staatsdienst wechselte Mommsen Anfang 1973 wieder zurück in die Wirtschaft, genauer den Vorstand der Fried. Krupp AG.

Die große Vielfalt der Beiträge im Hinblick auf Ansätze und Betrachtungszeiträume zeigte, wie vielschichtig sich Werdegänge zwischen Staat und Wirtschaft gestalteten und in der zeitgenössischen (Selbst-) Wahrnehmung der „Seitenwechsler” betrachtet wurden. Eine Problematisierung dieser Wechsel, wie sie in der heutigen Debatte präsent ist, ist dabei allerdings in der zeitgenössischen Rezeption kaum zu finden. Deutlich wurde auch, dass die Grenzen zwischen Politik und Wirtschaft keinesfalls trennscharf sind, sich im Laufe der Zeit verschoben und aktiv gestaltet wurden.

Konferenzübersicht:

Jan-Otmar Hesse (Bayreuth): Der Seitenwechsel als Thema der Unternehmensgeschichte.

Boris Gehlen (Stuttgart): Polyvalenz statt Seitenwechsel? Unternehmer als Multifunktionäre der bürgerlichen Gesellschaft (1848–1914).

Werner Plumpe (Frankfurt): Grenzgänger: Karl Helfferich zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik 1900–1924.

Christian Schölzel (Berlin): Walther Rathenau (1867–1922) – ein Mann vieler Handlungsfelder.

Philipp Müller (Hamburg): Universalitätsansprüche. Wirtschaftsvertreter im Feld der Macht nach 1918.

Daniel Kinderman (Delaware): Donald Trump’s Anti-Establishment Populism and the Revolving Door between Business and Politics in the United States.

Jan-Otmar Hesse (Bayreuth): Vom Röhren-Manager zum Verteidigungs-Staatssekretär und zurück: Der mehrfache Seitenwechsel von Ernst Wolf Mommsen.

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